Auf den Spuren eines Kardinalfehlers

Die Folgen neuer Stromverbraucher lassen sich nur mit dem Marginalstromansatz sinnvoll bewerten. Eben darum kommt es häufig zu heftigen Abwehrreaktionen, wie z.B. „Ich halte das Marginalstrom-Argument für idiotisch“. Es besteht Aufklärungsbedarf.

E-Auto-Fans bestreiten nicht, dass ein Teil des Stroms fossil erzeugt wird. Sie glauben aber, im Laufe der Zeit immer umweltfreundlicher und unter Umständen sogar jetzt schon emissionsfrei zu fahren
Eine weit verbreitete Meinung besagt, dass Elektroautos um so weniger Emissionen verursachen, je höher die Ökostromquote des Durchschnittsstroms ist. Auf den ersten Blick erscheint das durchaus einleuchtend.

Um die tatsächliche Relevanz der Zusammensetzung des Stroms aus der eigenen Steckdose zu verstehen, beginnen wir mit dem Sonderfall der teilweisen Selbstversorgung mit Ökostrom. Angenommen, ein Elektroauto-Besitzer bezieht den Ladestrom aus einer eigenen PV-Anlage:


Fährt dieses Auto mit grünem Strom?
„Klar, mit Solarstrom, wie sollte es anders sein?“ lautet eine häufige Antwort.
Schaut man jedoch ein zweites Mal hin, so kommen Zweifel auf.
Denn die Abbildung stellt nur den Momentanzustand der Akku-Aufladung dar. Die PV-Anlage hatte aber vorher schon Strom erzeugt und damit andere Verbraucher versorgt – in diesem Fall die Hauselektrik. Sobald dieser Strom für das E-Auto benötigt wird, steht er für die bisherigen Verbraucher nicht mehr zur Verfügung. Der Ladestrom muss nun von anderen Quellen ersetzt werden.
Das ist der Grund, warum fast alle Häuser mit PV-Anlagen an das Stromnetz angeschlossen sind:

Die Frage, ob dieses E-Auto emissionsfrei fährt, erscheint nun in einem anderen Licht: Offensichtlich kommt es nicht darauf an, woher der Ladestrom dieses Autos stammt. Stattdessen ist zu klären, welche Kraftwerke den Ausgleichsstrom erzeugen. Im besten Fall sind dies Wind- oder Solarkraftwerke. Doch was, wenn Kohlekraftwerke den Zusatzstrom erzeugen?

Fazit 1: E-Autos können auch dann sehr hohe CO2-Emissionen verursachen, wenn sie mit Solarstrom geladen werden

Das gilt auch für den Fall, dass der Solarstrom vor Beginn des Ladevorgangs nicht selbst verbraucht, sondern in das Netz eingespeist wurde:


Sobald das E-Auto angeschlossen wird und der Ladevorgang beginnt, endet die Einspeisung in das Netz. Die vom E-Auto abgerufene Leistung muss von anderen Kraftwerken ersetzt werden.
(Hat der E-Auto-Besitzer keine eigene PV-Anlage auf dem Dach, ruft der Akku seines Autos natürlich immer zusätzliche Leistung aus dem Netz ab.)

Fazit 2: Woher der Strom für einen bestimmten Ladevorgang stammt, ist ohne jeden Einfluss auf den Treibhausgasausstoß. Die zusätzlichen Emissionen hängen ausschließlich davon ab, welche Kraftwerke den Ausgleichstrom erzeugen.

Doch warum Ausgleichstrom – warum lassen die Emissionen sich nicht einfach mit dem Durchschnittsstrom ermitteln?
Grund hierfür ist, dass bei Lastschwankungen keineswegs alle Kraftwerke gleichmäßig herauf- oder heruntergeregelt werden.
Nur regelbare Kraftwerke passen ihre Leistung an. Und geregelt werden fast ausschließlich thermische Kraftwerke, die Kohle, Erdgas oder Öl verbrennen:

  • Kernkraftwerke sind zwar technisch regelbar, haben aber so niedrige laufende Kosten, dass sie beinahe immer mit Volllast arbeiten.
  • Für Strom aus Wind- und Solarkraftwerken besteht eine Abnahmeverpflichtung. Diese Leistung wird so gut wie immer vollständig in das Netz eingespeist und kann daher bei Bedarf nicht erhöht werden (Abregelungen erfolgen nur bei lokalen Netzengpässen und betreffen lt. Bundesnetzagentur weniger als 3 % der Jahresproduktion aus EE).

    Die Unterscheidung zwischen regelbaren und nicht regelbaren Kraftwerken gilt gleichermaßen für kurzfristige Bedarfsschwankungen im Minutentakt wie auch für vorhersehbare und planbare Änderungen.

Fazit 3: Wenn nur ein Teil der Kraftwerke zur Produktion des Ausgleichsstroms beiträgt, dann darf natürlich auch nur dieser Teil zur Emittlung der Emissionen zusätzlicher Stromverbraucher wie E-Autos herangezogen werden

Die Emissionen des einzelnen Ladevorgangs

Ist es überhaupt möglich, die genauen Emissionen eines bestimmten Ladevorgangs eines E-Autos zu ermitteln?

Diese Aufgabe ist anspruchsvoll, weil die Aufladung von Akkus häufig mehrere Stunden dauert. Daher kann es sein, dass der Ausgleichstrom zu Beginn von anderen Kraftwerken erzeugt wird als zum Ende hin. Das macht eine minutengenaue Auflösung der Stromerzeugung notwendig. Weil elektrischer Strom den Weg des geringsten Widerstands nimmt und kurze Wege bevorzugt, ist zudem davon auszugehen, dass der Ausgleichstrom vorrangig aus fossilen Kraftwerken der näheren Umgebung (bis ca. 200 km) stammt. Welche Kraftwerke zu welchem Zeitpunkt welchen Anteil liefern, lässt sich nur mit sehr großem Aufwand bestimmen.

Für Klimabilanzen ist dies indes gar nicht erforderlich…


Die Emissionen der gesamten Elektromobilität

Für Klimabilanzen sind nicht die Emissionen des einzelnen Fahrzeugs, sondern der gesamten Elektromobilität relevant.

Klimabilanzen sollen Politiker darüber informieren, welche Auswirkungen auf die Treibhausgasemissionen die Einführung neuer stromverbrauchender Produkte hat. Ziel ist es, eine wissenschaftliche Grundlage für gesetzliche Regelungen zur Förderung bestimmter Formen der Stromerzeugung oder -verwendung zu schaffen. Weil diese stets ganze Länder oder gar Kontinente betreffen, wird dabei im Falle von E-Autos die Gesamtheit aller Fahrzeuge betrachtet. Die Treibhausgasemissionen der Elektromobilität sind die Summe aller Emissionen, die dadurch entstehen, dass es überhaupt E-Autos gibt – bzw. vermieden würden, wenn es keine E-Autos gäbe. Seriöse CO2-Bilanzen des E-Autos als Alternative zum Auto mit Verbrennungsmotor müssen daher zwei Systemzustände vergleichen:
1. Das gesamte Stromnetz mit zusätzlicher Produktion von Ladestrom für Elektroautos
2. Dasselbe Stromnetz ohne die Ladestrom-Zusatzlast
Es genügt daher, zu beobachten, wie das Stromnetz auf größere Bedarfsschwankungen reagiert.

Die Empirie bestätigt eindrucksvoll, dass Lastschwankungen fast nur von fossilen Kraftwerken ausgeglichen werden. Über das Covid19-Krisenjahr 2020, als der Strombedarf aufgrund des Lockdowns sank, berichtete die Denkfabrik AGORA:

„Insbesondere die Kohleverstromung erreichte einen neuen Tiefststand seit Beginn der ganzheitlichen Aufzeichnung im Jahr 1990 … Der Nachfragerückgang wirkte sich fast ausschließlich auf die fossile Energieerzeugung aus, da diese in der Merit-Order – die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke beim Verkauf von Strom an der Börse – hinter den Erneuerbaren Energien stehen und somit als erste ihre Erzeugung reduzieren.“

Strom, der aufgrund steigender Nachfrage zusätzlich (oder aufgrund sinkender Nachfrage nicht) produziert werden muss, wird Marginalstrom oder Grenzstrom genannt. Nur dieser ist für die Klimabilanz zusätzlicher oder entfallender Verbraucher relevant. Nun „weiß“ das Stromnetz natürlich nicht, aus welchen Gründen die Nachfrage nach elektrischer Energie schwankt. Daher gibt es keinen plausiblen Grund für die Annahme, dass es auf Änderungen des Ladestrombedarfs anders reagieren würde.
Damit ist erwiesen, dass der zusätzliche Strombedarf der Elektromobilität überwiegend die fossile Stromproduktion erhöht. Der hohe Kohleanteil des Marginalstroms wirkt sich für das E-Auto fatal aus, wie aus einer Grafik der EU von 2019 hervorgeht:

Fazit 4: Werden die Emissionen der Elektromobilität korrekt mit dem Marginalstrom ermittelt, haben E-Autos keinesfalls niedrigere Emissionen als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren

Aber die Stromerzeugung aus EE wird doch extra für die BEV ausgebaut?

Solarpanels und Windräder sind Stromerzeuger, E-Autos sind Stromverbraucher.
Solarpanels und Windräder erhöhen die Ökostromquote, E-Autos verringern sie.
Das ist ausnahmslos immer der Fall. Warum Solarpanels und Windräder errichtet wurden, ist hierfür irrelevant.
Diese Behautung ist überdies mit einer Gegenfrage leicht zu entkräften. Denn angenommen, E-Autos würden wegen der vom Lithium ausgehenden Gesundheitsgefahren verboten werden: Warum sollte das ein Grund sein, die Entfossilisierung der Energieversorgung zu verlangsamen?


Zum Nutzen des flexiblen Ladens

Manche E-Auto-Fahrer versuchen, die Ladestromemissionen zu verringern, indem sie die Aufladung in Phasen mit „viel Wind- und Solarstrom im Netz“ verlegen. Ist das wirklich sinnvoll?
Diese Frage beantwortet sich nun eigentlich von selbst. Denn mit „viel Wind- und Solarstrom im Netz“ ist stets die Zusammensetzung des Durchschnittsstroms gemeint. Darauf kommt es allerdings, wie oben gezeigt, gar nicht an.

Wird der Ladevorgang gestartet, so wird im Netz auch bei hoher Ökostromquote nur die Leistung der fossilen Kraftwerke erhöht. Solar- und Windräder laufen ja bereits mit voller Leistung. Die Zusammensetzung von Durchschnitts- und Marginalstrom ist zum einen höchst unterschiedlich und zum anderen unabhängig voneinander: Je nach Verfügbarkeit der Kraftwerke und aktuellen Preisen kann es sein, dass in Phasen mit hoher Ökostromquote des Durchschnittsstroms der Zusatzstrom dennoch viel Kohlestrom enthält. Ebenso gut ist es möglich, dass bei niedriger Ökostromquote des Durchschnittsstroms zusätzlich benötigter Marginalstrom überwiegend von Gaskraftwerken produziert wird und verhältnismäßig sauber ist.

Was ist mit dem „Überschussstrom“?
Immer häufigere negative Preise deuten darauf hin, dass es bald tatsächlich echte, d.h. nicht verwertbare Überschüsse geben wird. Wer sein Auto bei viel Wind und Sonne lädt, wird für diese Ladezeiten tatsächlich behaupten können, Grünstrom getankt zu haben. Doch es gibt zwei Einwände:

  1. Praktisch niemand lädt sein Auto konsequent nur bei EE-Überschüssen.
  2. Wer den Strom aus einer eigenen PV-Anlage bezieht und über einen Speicher verfügt, fährt de facto nie mit Grünstrom. Denn er könnte mehr zur Senkung der Treibhausgasemissionen beitragen, indem er den Solarstrom nachts einspeiste – wenn Deutschlands Solaranlagen null Leistung bringen.


Fazit 5: Zur Akkuaufladung Phasen mit “sauberem“ Durchschnittsstrom abzuwarten, ist eine rituelle Handlung ohne Auswirkungen auf die Emissionen

Wäre es sinnvoller, ans Ausland verschenkten Strom als Ladestrom zu nutzen?

Bei viel Wind und Sonne kommt es heute schon vorübergehend vor, dass mehr Strom aus EE erzeugt wird, als in Deutschland verbraucht werden kann.
Aufgrund der Abnahmeverpflichtung muss dieser Überschuss exportiert werden, wobei es sogar zu negativen Preisen kommen kann. Könnte dieser Strom sinnvoller als Ladestrom für E-Autos verwendet werden?

Nein, das ist nicht der Fall.
Die niedrigen oder teils sogar negativen Exportpreise sind ein rein ökonomisches Problem und der dysfunktionalen Konstruktion des europäischen Strommarkts geschuldet. Tatsächlich wird dieser Strom auch im Ausland dazu genutzt, Fossilstrom aus dem Netz zu drängen. Unterbleibt der Export, um E-Autos zu laden, laufen fossile Kraftwerke im Ausland mit entsprechend höherer Leistung weiter. Im Hinblick auf den Klimaschutz ist es irrelevant, ob die Treibhausgasemissionen in Deutschland oder im europäischen Ausland verringert werden.

Fazit 6: Ins europäische Ausland „verschenkten“ Strom im Inland als Ladestrom zu verwenden, verbessert die Klimabilanz des E-Autos nicht


(Die ersten drei Grafiken sind von flaticon.com/free-icons.)