Wenn eine Wirtschaftsredakteurin einen Politikwissenschaftler über Elektroautos interviewt, wird es bizarr.
In einem Beitrag mit dem Titel „Rolle rückwärts beim Verbrenner? ‚Deutschland führt eine Phantomdebatte ums E-Auto’“ darf der angebliche „Branchenexperte Stefan Bratzel“ eine Menge Unsinn erzählen. Der Beitrag ist reißerisch verfasst. Der technische Hintergrund der E-Mobilität scheint dem Interviewten nicht bekannt zu sein.
Beispiel 1:
Zitat:
„An der Ladeinfrastruktur wird die Elektromobilität ihm zufolge nicht scheitern, solange die Politik entsprechende Vorgaben macht. Der Autoexperte ist gerade aus Shanghai mit seinen Hochhäusern und 29 Millionen Einwohnern zurückgekehrt. ‚Dort ist jedes zweite Auto auf der Straße ein Elektroauto – es funktioniert.‘ In seinen Augen wird in Deutschland eine „Phantomdebatte“ geführt: ‚Wir diskutieren, ob das geht, statt zu diskutieren, wie es geht.’“
Chinesische Großstädte sind bis auf kleine Altstadtgebiete relativ neu. Die Verteilnetze in diesen Städten sind von Beginn an mit höherer Kapazität (stärkeren Leitungen und Trafos) ausgerüstet worden. In totalitären Staaten ist es zudem kein Problem, den Ladestrom nach Menge und Zeit zu rationieren.
Beispiel 2:
Zitat:
„In greifbarer Zukunft ließen sich Batterien so schnell laden, wie sich Sprit tanken lässt.“

In drei Minuten eine 60 kWh-Batterie vollzuladen erfordert 1,2 MW Leistung. Das ist eine C-Rate von 20 – etwa 10-mal schneller, als Batterien heute geladen werden können (vielleicht 3 C bei starker Kühlung der Batterie), wenn man von 0 bis 100 % oder realistischer von 10 auf 90 % laden will. Bei einer 120 kWh-Batterie in 3 Minuten von 10 auf 90 % zu laden (100 kWh), bedeutet bereits 2 MW Leistung und wieder eine C-Rate von 20. Bei einer 800 Volt-Batterie sind das (ohne Verluste) 2500 A Strom. In Wohnungen werden typischerweise 1,5 mm²-Kupferleitungen mit 12 A abgesichert, also mit 8 A pro mm2. Das sind bei 2500 A und 8 A/mm2 pro Pol 500 mm2 Querschnitt oder ca. 25 mm Durchmesser pro Pol, also insgesamt 2 Leitungen mit je 25 mm Durchmesser.
Zum Vergleich: Schnellladen bei Porsche mit 250 kW DC und 800 V erfordert wassergekühlte Ladekabel. Dabei sprechen wir von 312 A gegenüber 2500 A (= Faktor 8, ergo sind die Verluste beim Laden mit 2 MW 64-fach höher).
In einer Batteriezelle kann die Aktivmasse der Kathoden und Anoden nicht aus Kupfer sein, sondern muss aus Graphit, Titanoxid, Nickel, Kobalt, LiPF6 (Leitsalz des Elektrolyt), … bestehen. Alle diese Materialien habe einen Innenwiderstand, der um mindestens eine Größenordnung größer ist als Kupfer, womit die Verluste in der Batterie ebenfalls um mindestens eine Größenordnung höher sind als bei Kupfer.
Damit ist die Unsinnigkeit der Behauptung von Stefan Bratzel klar bewiesen.
Ladeleistungen in Megawatt erfordern übrigens einen Anschluss an das Mittelspannungsnetz mit 10 bis 20 kV, da mehr als eine Ladesäule benötigt wird und der Strom bei z.B. 3 MW und drei Phasen 1 MW pro Phase ausmacht; das sind bei 230 V bereits 4348 A.
Man sollte nicht über ein Fachgebiet sprechen oder schreiben, in dem man inhaltlich so nackt dasteht wie Stefan Bratzel.
Beispiel 3:
Zitat:
„Die Verteilnetze müssen viel schneller ertüchtigt werden, damit die Leute Wallboxen für zu Hause kaufen können und an Schnellladestationen der nötige Strom bereitgestellt werden kann.„
Lt. Wienenergie braucht es zur Verdopplung der Leistung des Wiener Verteilernetzes von 2 auf 4 GW 10-15 Jahre. Das gilt auch für München, Frankfurt oder Paris, und es bedeutet eine Orgie an Beeinträchtigungen für die Bevölkerung, da alle (!) Straßen aufgerissen werden müssen, um die verstärkten Leitungen zu jedem Haus einzubringen und die Trafos zum Mittelspannungsnetz zu installieren. In Wien sind es gut 10.000 Trafos à 630 kVA plus das Upgrade des Mittelspannungsnetzes zu den Trafos plus Umspannwerke usw. Dazu kommt der Personalbedarf: Wo sind die Tausendschaften an Elektroingenieuren und Erdarbeiter/Straßenarbeiter, um die Aufgabe in 10+ Jahren zu erledigen? Heute dauert es ca. 2 Jahre vom Tag der Bestellung, bis ein Trafo geliefert wird, und es gibt nur eine bestimmte Anzahl an Firmen, die pro Jahr eine gewisse Zahl an Trafos, Leistungsschalter, Kabel etc. fertigen können. Wenn alle Städte beginnen, ihre Netzkapazität zu verXfachen, dann wird es dauern, bis die Fertigungskapazität wächst.
Um ein Gefühl für die Größenordnung zu geben:
Die Kabellängen im Wiener Mittelspannungsnetz betragen (Stand 31.12.23):
10 kV 3482 km, 20 kV 2422 km, 30 kV 13 km.
Nun stelle man sich bitte die Kabellängen (und den Kupferbedarf!) im Niederspannungsnetz vor … vermutlich das 10- bis 20-fache.
Shanghai kann definitiv nicht als Muster für die Ausrollung einer Ladeinfrastruktur in alten, gewachsenen, europäischen Städten dienen.
Schade, dass Stefan Bratzel so unwissend oder dreist und die Journalistin Christina Lohner so hilflos ist. Es werden daher nicht die richtigen Fragen gestellt, um den Unsinn, den Bratzel von sich gibt, aufzudecken. Der Leser wird völlig in die Irre geführt.
(Dieser Beitrag stammt von einem Gastautor, der nicht genannt werden möchte)
Kopfgrafik: Von Stefan Fussan CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63764026
Grafik im Text: https://www.pexels.com/de-de/foto/elektrizitat-strom-elektrische-autos-selektiven-fokus-15158968/

