Die Reichweiten-Schwindler vom ADAC – Fall 2

Der Mercedes EQS schafft die Strecke München-Berlin im Winter ohne Ladestopp – sagt der ADAC. Doch das stimmt nicht. Wahrscheinlich muss man sogar zweimal zum Aufladen anhalten.

(Diesen Beitrag gibt es auch als Audiodatei von 14 min Dauer.)

Geht es um E-Autos, so neigt der ADAC zum Fabulieren.
Im Juli 2024 hatte er behauptet, es sei mit einem koreanischen Elektroauto möglich, „mit einer 20-minütigen Ladepause von Kiel bis zu den Alpen komplett durch Deutschland zu fahren“. Daran ist kein Wort wahr.

Nun hat der ADAC die Wintertauglichkeit von 25 Elektroautos getestet und will angeblich herausgefunden haben, dass eines davon, der Mercedes EQS 450+, im Winter ohne Ladestopp von München bis Berlin kommt.

Das klingt doch recht ordentlich. Aber stimmt es denn diesmal?

Für den Test wurde tatsächlich eine Fahrt von München nach Berlin unternommen – allerdings mit einem Diesel: „Für die Laborsimulation wurde die Strecke München-Berlin über die Autobahn A9 bei einer Realfahrt aufgezeichnet und in den Prüfstand importiert – inklusive Steigungen, Gefälle und realistischem Verkehrsgeschehen.“

Ergebnis der Simulation: „Die Reichweite des Mercedes beträgt im Test 600 Kilometer und ist damit die beste von allen.“

Es sei nicht infrage gestellt, dass der Mercedes als das E-Auto mit dem größten Akku und niedrigsten Langtreckenverbrauch auch im Winter am weitesten fahren kann. Doch sind 600 km wirklich plausibel?

Der Plausitest

Das lässt sich grob abschätzen. Beginnen wir mit den sogenannten ADAC-Ecotest-Reichweiten von zwei technisch sehr ähnlichen Modellen:

  • EQS 450+ (10/21–04/23, mit 108 kWh Akku): 575 km
  • EQS 580 (10/21–04/23, mit 108 kWh Akku): 530 km.

Das sind 75 bzw. 77 % der WLTP-Reichweiten. Beim aktuellen EQS 450+ mit 816 km WLTP-Reichweite dürfte sich das Verhältnis zur Ecotest-Reichweite kaum unterscheiden; 76 % ergeben durchaus beeindruckende 620 km.

Im Winter sinkt die Reichweite aber. Der ADAC ermittelte bei realen Fahrten mit drei anderen E-Autos einen winterlichen Mehrverbrauch von 25 bis 31 % bei 100 km. Das entspricht einem Reichweitenverlust von 20 bis 25 %. 75 bis 80 % von 620 km sind 465 bis 496 km Winterreichweite.

Grundsätzlich ist es denkbar, dass Mercedes in kurzer Zeit einen großen technischen Vorsprung erarbeitet hat. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Außerdem hätte sich das sicher längst bis in die bekannten Autoforen herumgesprochen. Aber auch dort ist stets von einem Viertel bis einem Drittel Reichweitenverlust bei Kälte die Rede. Berichte über Winterreichweiten (egal mit welchem EQS-Modell) von über 500 km sucht man vergebens (Stand: Februar 2025).

Die auf dem Prüfstand ermittelte Reichweite scheint also um mindestens 100 km zu hoch zu sein.

Ursachenforschung

Zwei mögliche Erklärungen liefert der ADAC selbst.

Zum einen gibt er an, zur Programmierung der Prüfstandssteuerung die Fahrwiderstandskennwerte aus dem CoC (Certificate of Compliance) verwendet zu haben. Mit Kennwerten berechnete Fahrwiderstände weichen jedoch systematisch von den tatsächlich gemessenen Werten ab (z.B. durch seitlichen Reifenschlupf in Kurven, stärkere Verformung beim Bremsen und Beschleunigen, höheren Luftwiderstand bei Seitenwind, Nichtlinearitäten der Aerodynamik usw.).

Zur groben Abschätzung der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wurde drei KI-Maschinen dieselbe Frage gestellt:

Wie groß sind bei Elektroautos die relativen Abweichungen zwischen den Fahrwiderständen bei 100 und 130 km/h, die sich ergeben a) durch theoretische Berechnung mit den Fahrwiderstandskennwerten f0, f1 und f2 (die in dem CoC angegeben werden) und b) durch Messungen des Antriebsdrehmoments im Straßenversuch? Mit Abweichung ist nicht die Differenz zwischen 100 und 130 km/h, sondern zwischen Berechnungs- und Messergebnissen gemeint. Es geht also um die Genauigkeit der Fahrwiderstandskennwerte bei verschiedenen Geschwindigkeiten und um die Frage, ob diese tatsächlich den gesamten Fahrwiderstand beschreiben.

Hier die Antworten:


ChatGPTDeepseekGroK
100 km/h+ 5–10 %+ 3–10 %+ 5-15 %
130 km/h+10–15 %+10–25 %+ 10-25 %

Die Abweichungen sind erheblich.

Hinzu kommt z.B. noch der Energiebedarf der Heizung, den der ADAC in einer Antwort auf Youtube mit „durchschnittlich zwischen 1 und 2 kW“ angibt. Diese Werte stammen möglicherweise aus früheren Versuchen des ADAC, bei denen die Fahrzeuge allerdings nicht bewegt wurden, sondern in einer Kältekammer standen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Realfahrten:

  • Messungen im Stand berücksichtigen nicht die stärkere Abkühlung der Fahrzeuge durch den Fahrtwind
  • Auch der Akku muss beheizt werden und verliert in Fahrt mehr Wärmeenergie

Erneut wurden KI-Maschinen befragt: „Wie viel kW elektrische Leistung wird von Elektroautos verbraucht, um bei 111 km/h und 0 °C Außentemperatur den Innenraum sowie den Akku zu beheizen?“


ChatGPTDeepseekGroK
Innenraum33-51
Akku11-21,5
Summe4> 42,5

Dies sind zwei mögliche Erklärungen für die unrealistische Prüfstandsreichweite. Es gibt eben gute Gründe, reale Verbräuche im Fahrversuch und nicht im Labor zu ermitteln. Wer dennoch Simulationsmodelle verwenden will, muss diese kalibrieren.

Der Prozessschritt der Kalibrierung dient dazu, die Parameterwerte so anzupassen, dass die Modellvorhersagen möglichst genau mit den realen Daten übereinstimmen. Dies kann durch Iterationen geschehen, bei denen die Parameter systematisch variiert und die Ergebnisse beobachtet werden.

Dazu muss man aber natürlich wissen, wie weit die Ergebnisse von der Realität abweichen. Eine hinreichend genaue Kalibrierung ist nur mit Verbräuchen möglich, die bei winterlichen Realfahrten gemessen wurden.

Rückfrage an den ADAC – und die Antwort

Dazu hat der Autor dem ADAC auf Youtube u.a. diese Frage gestellt:

Standen Ihnen solche Daten zur Verfügung?“

Der ADAC antwortete ausweichend: Selbstverständlich haben wir sowohl beim EQS als auch bei allen anderen E-Autos im Test vor Testbeginn eine „Lastanpassung“ (so nennt man das im Zulassungsverfahren) durchgeführt, um das Fahrzeug auf dem Prüfstand zu „kalibrieren“ und somit alle Ergebnisse vergleichbar zu halten. … Ziel des Tests war es ja nicht, einen unter allen Umständen absoluten Wert für die Reichweite zu ermitteln, sondern alle 25 Fahrzeuge bestmöglich zu vergleichen und die Leistungsfähigkeit der einzelnen Modelle auf der Langstrecke, im Winter darzustellen.“

Wie auch immer man die etwas merkwürdige Formulierung „unter allen Umständen“ interpretieren mag: Diese Antwort macht deutlich, dass es dem ADAC gar nicht darum ging, absolute Verbräuche zu ermitteln. Sein Ziel war ein Reichweitenranking (und auch das nicht wirklich für die Fahrt von München nach Berlin, sondern unter Prüfstandsbedingungen). Für realitätsnahe Absolutverbräuche, die wiederum zwingende Voraussetzung für realitätsnahe Reichweitenangaben sind, hätte man Daten von realen Fahrten benötigt – durchgeführt nicht mit einem Dieselfahrzeug, sondern mit Elektroautos, und zwar mit mehreren, um das Modell iterativ nachjustieren zu können. Doch die Testbeschreibung und die Antworten des ADAC auf Youtube lassen nichts dergleichen erkennen. Der ADAC scheint dies versäumt zu haben.

Fazit

Der ADAC hat Prüfstandswerte ermittelt, deren Aussagekraft begrenzt ist. Wie weit die Autos auf der Straße wirklich gekommen wären, weiß er nicht. Die Abweichungen können mehr als 100 km betragen. Das ist keine solide Basis für die Behauptung, der Mercedes hätte es ohne Ladestopp bis Berlin geschafft.

Auf seiner Website behauptet der ADAC dennoch: „Ein Modell – der Mercedes EQS – schaffte die komplette Strecke ohne Ladestopp.“

Das ist Irreführung.

Und es ist noch nicht alles.

Der ADAC hat noch einen weiteren Trick angewandt. Für den Test wurden die Akkus zunächst auf 100 Prozent aufgeladen und dann entladen, bis die Batterieleistung so weit gedrosselt wurde und nicht mehr ausreichte, um der Sollgeschwindigkeit zu folgen.“

Mit dem Alltagsbetrieb von Elektroautos hat das wenig zu tun. Denn die meisten Hersteller empfehlen, die teuren Akkus nur bis 80 % aufzuladen und nur bis 20 % zu entladen (keinesfalls unter 10 %).

Über die Relevanz dieser Empfehlung wurden wieder KI-Maschinen befragt. Die weitgehend übereinstimmende Antwort lautet:
Um die Lebensdauer zu maximieren, ist es ratsam, die Ladung im Alltag bei 80 % zu stoppen und 100 % nur gezielt einzusetzen. Die progressive Zunahme der Degradation oberhalb von 80 % ist ein Schlüsselaspekt für die Batteriegesundheit.“

(Eine genauere Erläuterung dieser Zusammenhänge findet sich z.B. dort.)

Wer seinen Dienstwagen alle zwei bis drei Jahre wechselt, mag das getrost ignorieren, denn mit den Folgen der verringerten Akkukapazität muss sich später der Gebrauchtwagenkäufer herumschlagen. Aber ist es wirklich seriös, Reichweiten anzugeben, für die man etwas tun muss, von dem die Hersteller ausdrücklich abraten? Wer auf die Lebensdauer des Akkus achtet, wird nur ausnahmsweise mehr als 60 bis 70 Prozent der angegebenen Reichweite nutzen können.

Die Winterreichweite des Mercedes EQS 450+ schrumpft damit auf nur noch 350 km (0,7 * 496 km) – etwas mehr als die Hälfte dessen, was der ADAC behauptet.

Je genauer man hinschaut, umso kleiner die Reichweite:

Hinweis: Die ADAC-Ecotest-Reichweite in der Grafik wirde durch Vergleiche mit ähnlichen E-Auto-Modellen desselben Herstellers geschätzt (siehe im Text weiter oben). Ein offizieller Wert des ADAC existiert nicht.

Und was bedeutet das für die Teststrecke München-Berlin? Ganz einfach:

Der Mercedes würde sogar zwei Ladestopps benötigen!

Laut ADAC kann der Mercedes in 20 Minuten Strom für 305 km nachladen. Wir gehen davon aus, dass die Energiemenge korrekt gemessen wurde. Die angeblich erzielbare Zusatz-Reichweite beruht aber natürlich auf der unrealistischen Prüfstandsreichweite (von 600 statt 500 km) und ist daher auf auf 5/6 zu kürzen – das macht 254 km. 350 km Start-Reichweite plus realistische 254 km Nachlade-Reichweite sind zusammen 604 km.
Es könnte also so gerade eben mit einem Ladestopp klappen. Aber wer will denn bitte mit 22 km Restreichweite in Berlin ankommen?
Selbstverständlich würde man kurz vor dem Ziel noch eine weitere Ladepause einlegen.

Der ADAC-Artikel scheint diese Wahrheit verschleiern zu wollen.

Eine grundsätzliche Frage zum Schluss

Woher kommt die manische Besessenheit, mit der auch der ADAC das E-Auto anpreist? 600 km Fahrt sind durchaus möglich, doch selbst bei 110.000 € teuren Elektroautos muss die Pausenplanung dem Ladezustand folgen. Warum kann der ADAC die Dinge nicht einfach so darstellen, wie sie sind?

ADAC-Mitgliedern, die diese missionarische Tätigkeit nicht länger finanzieren wollen, sei gesagt, dass es durchaus auch technologieneutrale Automobilclubs gibt, die ihre Mitglieder als erwachsene, selbstständig denkende Menschen behandeln (z.B. Mobil in Deutschland e.V.) *

* Der Autor versichert, in keinerlei Geschäftsbeziehung zu diesem Unternehmen zu stehen

Kopfgrafik: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/8/8d/ADAC-Logo.svg/479px-ADAC-Logo.svg.png

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